DO RE MI...«Erst mal sind wir diese Tiere, die fressen und sich vermehren wollen», Isabel Hemmel, Tagesanzeiger, Züritipp, 16.10.2024
Literarische Entdeckung aus Zürich
«Erst mal sind wir diese Tiere, die fressen und sich vermehren wollen»
Tine Melzer hat mit «Do Re Mi Fa So» einen Roman über einen Sänger geschrieben, der nach einem Vollbad nicht mehr aus der Wanne steigt. Klingt seltsam und ist ziemlich gut. Ein Gespräch.
Tine Melzer hat ein Faible für krisengebeutelte Männer. Auf diese Idee können einen die Protagonisten in ihren Büchern bringen. Im Debütroman «Alpha Bravo Charlie», erschienen 2023, arbeitet sich ein pensionierter Pilot an seiner Daseinsberechtigung ab. Soeben ist der zweite Roman erschienen: «Do Re Mi Fa So» handelt von einem Sänger, der gemeinsam mit seinem besten Freund Franz das Haus der verstorbenen Mutter auf dem Land bewohnt.
Sänger Sebastian Saum kann, auch was seine Karriere als Bariton angeht, eigentlich nicht klagen, dennoch steigt er am Abend seines 40. Geburtstags in die Badewanne und beschliesst, sie nicht mehr zu verlassen. Das Wasser ersetzt er durch Decken und Kissen und gibt sich fortan nackt seinen Gedankenströmen hin, während Franz ihn mit Essen versorgt. So wenig in diesem dichten Büchlein auf der Handlungsebene passiert, so virtuos ist der Einsatz von Sprache.
Ein Sprachrohr für essenzielle Fragen
Tine Melzer, geboren 1978, hat Kunst und Philosophie in Amsterdam studiert, in England hat sie promoviert, seit 2009 lebt sie mit ihrer Familie in Zürich. Ihr Interesse gilt seit jeher der Sprache und ihrer Bedeutung – und besonders deren Schnittstelle zur bildenden Kunst.
Auf die Frage danach, wie dehnbar in ihren Augen unsere Sprache ist, wenn es zum Beispiel ums Gendern geht, wird sie später sagen: «Ich finde es toll, wenn Leute sich aufregen, weil sie dann über die Sprache nachdenken. Ich glaube, wir können der Sprache ganz viel antun. Sie tut uns auch ganz viel an, aber es ist ein symbiotisches Verhältnis. Wir brauchen sie, sie braucht uns.» Aber wo die Welt sich verändere, müsse sich die Sprache daran anpassen und nicht umgekehrt.
Durch die grossen Fenster ihres Ateliers in der Roten Fabrik, wo wir sie zum Gespräch treffen, sieht man direkt auf den Zürichsee. Melzer nennt dieses Zimmer ihr Schiff. An den Wänden hängen Kunstwerke, Kacheln mit Sätzen, Zettel, gerahmte Textpassagen. Seit 20 Jahren lehrt sie neben ihrer künstlerischen Tätigkeit an verschiedenen Hochschulen, aktuell hat sie eine Professur an der Hochschule der Künste in Bern.
Ihr Roman «Do Re Mi Fa So» ist ein sorgfältig komponierter Monolog mit originellem Witz und eine Liebeserklärung an die Möglichkeiten und die Macht der Sprache. Zugleich hat Melzer mit der Figur Sebastian Saum ein Sprachrohr geschaffen für essenzielle Fragen – und eine ungewöhnlich unsichere Männerfigur in die Welt gesetzt.
Tine Melzer, es scheint, als hätten Sie ein Herz für Männer in der Krise?
Ich habe ein Herz für Menschen in der Krise. Mich interessieren die Zweifel. Warum das jetzt Männer sind, hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich zweifelnde Männer mag: Also nicht nur die starke Frau, das Astrid-Lindgren-Modell, sondern auch der weiche Mann, der zuhört, der sich nicht sicher ist.
Gibt es in der Literatur nicht schon genug zweifelnde Helden?
Doch. Aber als Modell finde ich es gut, jemandem so nahe zu kommen wie Sebastian Saum, der sich den existenziellen Fragen voll und ganz hingibt und merkt, er müsste sich doch eigentlich irgendwie engagieren und nützlich machen in der Welt.
Da schwingt ja auch die Frage nach seiner Rolle als Sänger in der Gesellschaft mit. Warum brauchen wir Künstler und Künstlerinnen?
Es geht für mich um eine Arbeit, die gemacht werden muss, auch wenn sie nicht finanziert wird. Ich glaube, es ist wichtig, dass es Leute gibt, die sich Krisen aussetzen und versuchen, Gefühle zu vermitteln und einen Ausdruck dafür zu finden. In der Hoffnung, dass es andere Leute berührt. Es ist eine Art Dienstleistung.
Die im besten Fall die Gesellschaft verändert?
Es geht eher darum, dass die Gesellschaft sich kennen lernt, vielleicht gar nicht unbedingt gleich verändert. Dafür sorgen Künstlerinnen und Künstler, die nicht nur was machen, weil sie was loswerden wollen, sondern weil sie darauf hoffen, dass jemand anderes sich darin erkennt. Und dadurch wird eine Art von Verstandenwerden erzeugt. Indem wir uns hineinversetzen in eine Figur, sei es jetzt im Theater oder im Buch oder im Film, haben wir die Möglichkeit, menschlich zu sein und Dinge wahrzunehmen, für die wir sonst gar keine Zeit hätten.
Zum Beispiel?
Ich kann in zwei Stunden im Kino was erleben, wozu ich in meinem Leben sonst nie Gelegenheit hätte. Es geht darum, ein Verständnis füreinander herzustellen. Das halte ich wirklich für eine der grössten Aufgaben der Zivilisation. Und dafür braucht es Leute, die Werke machen, und Menschen, die sich die Zeit nehmen, sich darauf einzulassen.
Franz, Sebastians Mitbewohner, ist Komponist. Im Roman ist er weniger im Einsatz für die Gesellschaft als vielmehr für seinen Freund in der Wanne. Den bekocht er selbstlos, wäscht und putzt. Warum?
Franz ist das Gegenmodell zu diesem unverschämten Badenden. Für Franz ist Sebastian seine Familie. Was Franz macht, ist Care-Arbeit. Wenn jemand krank wird, zum Beispiel, dann bringen wir auch Essen ans Bett. Und in dem Fall ist das Bett eben die Badewanne. Das alles passiert nicht, weil es erwartet wird, sondern weil es notwendig ist. Hier kommt das einfach aus dieser Männerfreundschaft heraus und dem Vertrauen darauf, dass es umgekehrt genauso wäre.
In letzter Zeit war immer wieder in den Medien über Freundschaften und deren Notwendigkeit, gerade auch im Alter, zu lesen. Ist das zwischen Sebastian und Franz Ihre Idealvorstellung von Freundschaft?
Ideal ist es vielleicht nicht gerade, aber es ist die Aufmerksamkeit wert. Ich denke viel über Freundschaft nach, auch weil ich selbst sehr gute Freunde habe. Das sind besondere Beziehungen, die manchmal ein bisschen zu kurz kommen. Ich finde tatsächlich, dass Freundschaft eine freiwillige Familienzugehörigkeit erschafft und eine Zusage ist ohne diese ganzen formalisierten Verträge. Aber sie ist eben auch sehr, sehr zerbrechlich.
Es ist also durchaus in Ihrem Sinn, dass die Leute, wenn sie das Buch lesen, auch beginnen, über Freundschaften nachzudenken?
Ja, und sich fragen: Würde ich das auch machen für den oder die? Der Roman ist tatsächlich eine Ode an die Freundschaft. Aber über allem steht in Anbetracht dieses Exzentrikers in der Badewanne auch die Frage: Wie holen wir einen Freund aus der Krise? Wie hartnäckig dürfen wir sein? Wie sehr dürfen wir uns aufdrängen? Wie treu müssen wir sein?
An Tag 16 verlässt der Sänger die Wanne, weil sein Grundbedürfnis nach Nahrung nicht mehr gestillt wird. Ist der Mensch wirklich so einfach gestrickt?
Erst mal sind wir diese Tiere, die fressen und sich vermehren wollen. Wenn das erledigt ist, dann merken wir, was wir eigentlich tun müssten. Deshalb verbindet sich das bei Saum dauernd mit der Frage nach der Verantwortung der Gesellschaft gegenüber. Und danach, wie wir unsere Zeit eigentlich verbringen müssten, wenn wir denn nicht nur die hungrigen Tiere sind, die sich fortpflanzen wollen.
Isabel Hemmel, Tagesanzeiger, 16.10.2024