DO RE MI... Christina König: Opernsänger nicht systemrelevant, Drehpunkt Kultur

„Ich habe mich nur kurz aus dem Verkehr gezogen. Wie ein defektes Auto. Eine Panne, eine Pause, harmlos. Es bedeutet erst etwas, wenn es vorbei ist. Es ist erst vorbei, wenn es etwas zu bedeuten begonnen hat.“ Tine Melzer schreibt die Geschichte eines freiwilligen Rückzugs – hinaus aus der Welt und hinein in die Badewanne. Trocken, witzig und mit überraschenden Sprachwendungen.

Hikikomori nennt man in Japan jene Menschen, die sich von der Gesellschaft zurückziehen und auf längere Zeit in bewusst gewählter sozialer Isolation leben. Sie werden zu Einsiedlern im eigenen Zuhause, gehen nicht zur Arbeit, zur Schule, zu Treffen mit Freunden – und das für mindestens sechs Monate.

Meistens beginnen diese Menschen als Schulverweigerer, sind also noch recht jung. Anders in Tine Melzers neuem Roman Do Re Mi Fa So – er stellt uns den gestandenen, erfolgreichen Bariton Sebastian Saum vor, gerade vierzig Jahre alt geworden, der eines Nachts aus Trotz in der Badewanne übernachtet – und diese am nächsten Morgen einfach nicht wieder verlässt. Ein halbes Jahr lang bleibt er zwar nicht drin, aber immerhin zwei Wochen. Diese zwei Wochen stecken den Rahmen für Melzers absurderweise sehr nachvollziehbare Geschichte.

Psychologisch geschickt führt die Autorin uns mit Sebastian Saum durch seine Hikikomori-Phase. Sie beginnt mit der Überraschungsparty zu seinem Vierziger, die Saum nicht will – hier sehen wir bereits erste Anzeichen seiner inneren Isolierung von der Gesellschaft: „Ich selbst bin eine singende Schildkröte, ein Kleintier im Zoo der guten Gesellschaft, gefüttert von der Allgemeinheit – bitte nicht an die Scheibe klopfen.“

Geplant war sein Rückzug nicht. Er scheint eher aus einer Art spontanem Überdruss zu entstehen, aus einer Lustlosigkeit, das sozial Akzeptable zu tun. Aber er steht auch nach dem Wochenende nicht mehr auf, ignoriert seine Arbeit, seine Freunde – und langsam wird es ernst. Langsam erwartet er von sich selbst einen Grund, einen Sinn für seinen Badewannenaufenthalt.

Nach außen hin passiert nicht viel in diesem Buch. Der Ort des Geschehens ist notgedrungen beschränkt auf das Badezimmer. Aber Saums innere Gedankenwelten rauschen an seinem Antennenradio mit Fahrstuhljazz und den pfefferminzgrünen Fliesen vorbei, reflektieren, planen, langweilen sich. Die Autorin wählt als Ausgangs- und Anhaltspunkt für Saums Überlegungen seine Kleider, eine Art inneres Kleiderkarussell, das er dreht wie eine erfahrene Verkäuferin, Kleider wie die schwarze Bubenkrawatte zur Kommunion, die Fischerweste in Oliv, die orangene Schulpudelmütze oder das ausgebleichte Frotteelätzchen mit Katzenaufdruck, die in Verbindung stehen mit bestimmten Menschen, Erinnerungen, Wünschen. Wichtiges Symbol ist der doppelt vernähte Blaumann, mit dem er manchmal festen Schrittes durch den Wald spaziert wie jemand auf wichtiger Mission, wie jemand, der gebraucht wird: „Blaumänner sind Ritter der Zivilisation, Retter in der Not.“ Durch den Roman zieht sich Saums Hadern mit seinem Beruf als Opernsänger: nichts Systemrelevantes, nichts Handfestes, nichts, von dem er jemals eine Pause nehmen könnte, weil er sein Instrument stets mit sich trägt. In seiner Badewanne fantasiert er sich andere Identitäten zusammen: als Automechaniker, Sanitäranlagenreiniger, Paketauslieferer. Stets liegt er nackt darin – er könnte alles sein. Was möchte, muss er sein? Welche Verantwortung hat er gegenüber der Gesellschaft? Braucht es Künstler, braucht es ihn so, wie er ist? Braucht es ihn anders?

Das Personenverzeichnis des Romans ist reduziert. Der Charakter, mit dem Saum vor allem interagiert, ist Franz, sein bester Freund, mit dem er in einer platonischen Lebensgemeinschaft zusammenwohnt. Sehr zärtlich und originell wird diese Beziehung charakterisiert: „Wir sind die zwei Herren am Basar, die Backgammon spielen. Wir sind die zwei Alten auf dem Balkon in der Muppet Show. … Wir sind Salz und Pfeffer auf den Tischen ländlicher Gaststätten.“ Rührend kümmert sich Franz um ihn, kocht Pflaumenkompott mit Grießknödeln, bringt ihm Bittersalz, damit er aufs Klo gehen kann, und Arnikasalbe für seine wunden Stellen. Die Beschreibung dieser Beziehung zwischen Kümmern und Intervention, dieser beiden Männer zwischen Verantwortungslosigkeit und Care-Arbeit, gehört zu den schönsten Seiten des Romans.

Ein ebenso großes Vergnügen ist Melzers Sprache: Stets amüsiert-distanziert, in feine Ironie getaucht, sehr kreativ und voller Metaphern, Assoziationen und Wortspiele. Da steckt die Kapitulation in der Rekapitulation, da muss man auch kleine Probleme mit großem P schreiben, da ist Franz im so perfekten Alter, dass er, wenn er ein Brot wäre, jetzt aus dem Ofen müsste. Die Geschichte ist auch schlichtweg witzig – zum Beispiel, wenn Saum, der sich selbst gleichermaßen ernst und absolut unernst nimmt, spekuliert, wann wohl der beste Tag für seine Rückkehr ins Leben wäre (muss es ein Montag sein?) und was seine Matratze sagen würde, wenn er ihr plötzlich wieder zur Last fiele.

Am Ende, so viel sei verraten, verlässt Saum seine Badewanne mit den ausgelegten Kissen und Decken dann doch. Wie geht es weiter mit ihm? Welche Erkenntnisse, Konsequenzen zieht er aus seinem Badewannen-Intermezzo? Das darf jeder Leser für sich entscheiden.

Christina König: Opernsänger nicht systemrelevant, Drehpunkt Kultur, A, Dec 25