ALPHA BRAVO... Michael Luisier, Britta Spichiger, Annette König: Buchzeichen, Radio SRF1, 2023
Michael Luisier mit Britta Spichiger und Annette König: Buchzeichen, Radio SRF1, 7.3.23
«… Nach den Nachrichten mit unserem Buchzeichen mit lesenswerten Büchern. Unter anderem eines über einen Rentner, der sich in seinem neuen Leben zurechtfinden muss.
Michael Luisier: … Und das Buchzeichen ist wie immer eine Stammtischrunde. Mit mir am Tisch sitzen Britta Spiechiger, Annette König und die Bücher, die sie dabei haben sind u.a. ein Debütroman von der Künstlerin und Autorin Tine Melzer, Alpha Bravo, Charlie heißt er.
…
Und wer ist die Debütantin Tine Melzer?
Tine Melzer ist 45, sie hat Kunst und Philosophie studiert und ist jetzt Dozentin an der Hochschule der Künste Bern. Und sie ist eine Künstlerin die sich mit dem Wesen der Sprache auseinandersetzt und das auch probiert visuell darzustellen.
Michael Luisier: Britta, du hast den Debütroman der Künstlerin und Autorin Tine Melzer mitgebracht. Der heißt Alpha Bravo Charlie. Worum geht's in dem schmalen Buch von 120 Seiten?
Britta Spichiger: Es geht um einen Tag im Leben vom pensionierten Linienpilot Johann Trost. Er muss nach seiner Pensionierung einen Platz im Leben finden und das Buch ist eigentlich ein einziger Monolog, so eine Art Gedankenstrom, wo der Johann Trost, erst eigentlich gegen Ende des Buches daraus herausgerissen wird und sein Blick auf sein Leben abgelöst wird durch jemand anderen. Aber der rote Faden von der Geschichte: das Buch fangt an in einem Geschäft um eine Modelllandschaft zu bauen. Und während er das Modell baut gehen ihm allerlei Gedanken durch den Kopf. Zu allen möglichen Themen: zu seiner gescheiterten Ehe, zu den Nachbarn, zum Beruf, zur Gesellschaft allgemein. Es ist sehr assoziativ geschrieben. Also das Buch ist eigentlich eine grosse Sammlung von unterschiedlichsten Gedanken zu unterschiedlichsten Themen.
Wieso will er eine Modell-Landschaft bauen?
Er ist Linienpilot gewesen und war sein ganzes Arbeitsleben lang gewohnt, Kontrolle zu haben über alles, Kontrolle zu haben übers Flugzeug, aber auch quasi eine Vogelperspektive auf die Welt. Und so wie er denkt und wie er das erfährt im Verlauf des Buches will er diese Kontrolle auf keinen Fall aus der Hand geben. Und er will weiterhin die Welt von oben sehen.
Dass ich mir auch als erste Assoziation durch den Kopf gegangen: die Welt von oben zu sehen. Aber du hast gesagt: die Ehe ist gescheitert, gleichzeitig will er alles unter Kontrolle haben. Hat er noch andere schwierige Erlebnisse gehabt as als Linienpilot?
Sein Berufsleben ist eigentlich kein Thema. Was er genau erlebt hat erfährt man nicht. Was eigentlich zentral ist im Buch ist die Haltung zu den Themen, die er hat. Er legt Wert auf Prinzipien, auf Regeln, auf Disziplin. In seiner Wohnung ist alles alphabetisch geordnet. Deshalb heisst das Buch auch Alpha Bravo Charlie. Und alles was nur entfernt nach Vergnügen aussieht, ist ihm ein Greuel. Im Bezug auf seine gescheiterte Ehe ist er nachtragend und missgünstig. Im Bezug auf die Tatsache dass er keine eigenen Kinder hat, sagt er die Rolle vom Onkel wäre die Beste, da könnte er ein paarmal im Jahr dem Kind ein Glacé kaufen, das hilft gegen die Langeweile. Also nicht unbedingt ein Menschenfreund.
Ein Stinkstiefel? Unsympathisch?
Man musss vielleicht zu seiner Verteidigung sagen, er ist auch sich selber gegenüber sehr schonungslos. Zum Beispiel, wenn er so in einem Moment vor der Selbsterkenntnis sagt: Maßlosigkeit ist meine grösste Schwäche. Er erzählt fast verschämt, dass er im Treppenhaus die Schuhe der Nachbarn sortiert, wenn niemand es sieht, weil es ihn wirklich stört, wenn alles durcheinander liegt.
Fürhrt das irgendwo hin? Kommt er durch diese Selbstbetrachtung zu einem Schluss, passiert irgendewetwas was zur Erlösung oder Auflösung kommt?
Es passiert etwas ganz Unerwartetetes, ich will es nicht verraten. Aber gegen Schluss wird der Gedankenstrom unterbrochen durch jemand anderes, der ihn von aussen sieht und von aussen auf ihn zukommt. Und wie er reagiert darauf bleibt offen, aber es zeigt eine andere Sicht auf ihn und jemand der ihn wirklich versucht zu sehen.
Wie ist es geschrieben?
Ja, eben er ist die einzige Person, die redet auf den rund 120 Seiten. Das wirkt auf der eine Seite sehr unmittelbar, sehr authentisch. Die Sätze: jeder einzelne ist sehr präzis, ausgefeilt, durchdacht. Aber deshalb ist die Lektüre keine schelle. Man kann denken: 120 Seiten habe ich leicht in 2 Stunden gelesen. So ist es nicht. Es ist sehr, sehr dicht geschrieben. Einzelne Sätze muss man richtig auf sich wirken lassen. Man muss sich die Verschnaufpause selber verschaffen, weil es im Text in keine gibt. Es gibt auch sehr interessante Vergleiche, einmal vergleicht der Johann Trost einen Beziehung zwischen zwei Menschen mit dem Zusammenlegen eines Leintuches. Das quasi an zwei Ecken sind und es zusammenlegen und einmal entwischt das Tuch, man springt sie wieder zu packen. Solche Alltagssituationen, die uns allen wahrscheinlich vertraut vorkommen, aber ungewöhnliche Vergleiche im Zusammenhange mit einer Beziehung. Und da gibt es auch so Sätze, die einen Nachdenken lassen, zum Beispiel: ‘Ich beneide alle Leute, für die es nie zu spät ist, um rechtzeitig aufzuhören.’ Also Sachen, die man vielleicht nicht auf Anhieb versteht und die man dennoch auf sich selbst beziehen kann. Dann ist der Reiz des Buches die Haltung der Figur, die einzigartig ist.
Das finde ich ja, es geht wirklich um die Haltung und eine scheinbar unverrückbare Haltung, ein pensionierter Mann, der das Gefühl hat: ich kenne das Leben, ich habe genug Erfahrung, ich weiss, was es für mich bereithält und was es nicht für mich bereithält. Schön, wie zwischendurch Momente des Schwankens durchleuchten. Es gibt eine schöne Szene, wo er erzählt, dass er einmal im falschen Film gesessen ist im Kino. Und dann fällt es ihm schwer zu entscheiden, welche die bessere Enstcheidung wäre: Ob er aufstehen soll um den Film zu sehen, den er eigentlich anschauen wollte, im Wissen darum dass er den Anfang des Films verpasst. Oder ob er einfach sagt: das ist jetzt eben so, ich sitze im falschen Film und lasse mich auf etwas Neues ein.
Sie hat, wie sie sie das sprachlich verpackt, einen grossen Kunstanspruch. Das sind alles Aussagen, worüber man erst drüberstolpert wenn man sie liest, und wo man nachher eine Bedeutung hineinlegt, um etwas für sich selbst herauszuziehen.
Es ist genauso wie du sagst. Am Anfang hat man das Gefühl, es sei eine unsympathische Figur. Er zählt zum Beispiel auf, wo er nicht hingehört: er gehöre nicht in Gartevereine, nicht in Musikklubs, nicht in Kirchenchöre, Wellness-Oasen, Einkaufspassagen schon garnicht. 'Einzig in der Tram halte ich es aus, da will ja niemand umsonst sein.' Das sind so Perlen, die einem dann doch die Person näherbringen. … Ich stelle mir es trotzdem extrem anstrengend vor, Johann Trost zu sein.
Ich glaube es dass ihm auch nicht immer so ganz wohl ist. Aber zum Glück knnst du sagen, so jetzt langt's und ich lese morgen weiter. Tine Melzer, so heißt die Autorin 'Alpha Bravo Charlie' ihr Debüt, ihr Roman und der ist nun bei Jung und Jung erscheinen.»