ALPHA BRAVO...Manfred Papst: Schweigend ins Gespräch vertieft, NZZ Magazin 2023
Manfred Papst: Schweigend ins Gespräch vertieft, Die Zugabe, NZZ 25.02.2023.
Seit ich nichts mehr zu tun habe, treffe ich mich gelegentlich mit einem Mann namens Johann Trost. Viel zu reden haben wir zwar nicht. Aber wir sitzen gern auf der gleichen Parkbank, er am einen Ende, ich am anderen, wir beobachten die Passanten oder schauen bloss vor uns hin.
Trost ist genau ein Jahr älter als ich, auch pensioniert, zudem geschieden. Früher war er Pilot auf Kurzstrecken, «Busfahrer der Lüfte», wie er mit einem Anflug von Bitterkeit sagt. Wie ich hat er es gerne ordentlich. Im Gang seiner Mietwohnung sind die Schuhe so akkurat ausgerichtet wie Soldaten bei einer Parade. Liegen im Treppenhaus die Schuhe von Nachbarn durcheinander, dann ordnet er sie – aber nur, wenn keiner zusieht. Niemals würde er sich beschweren.
Bisweilen liest er den Wirtschaftsteil der NZZ; dann fühlt er sich als fleissiger Mensch. Zur Hauptsache braucht er die Zeitung jedoch als Bastelunterlage. Er ist nämlich Modellbauer. Am Küchentisch klebt er Häuschen und Hochspannungsleitungen zusammen, streut sorgsam Grasflocken auf die mit einer Leimschicht überzogene Holzplatte. Es ärgert ihn, dass er vorhin bei seinem Besuch im Fachgeschäft keine Figuren im Massstab 1:200 bekommen hat. Die im Massstab 1:65 stehen wie klobige Riesen in der Landschaft; sie überragen sogar die Bäumchen und Häuschen. So hat die Bauerei doch überhaupt keinen Sinn!
Wenn Johann Trost mir auf unserer Bank gesteht, dass er die Bepflanzung seiner Miniaturwelt mit der Nagelschere stutzt, höre ich nur halb zu; aber dann sagt er plötzlich wieder einen Satz, bei dem ich aufmerke. Wie ich hat er eine Schwäche für Zahlen. Seltsam übrigens, dass man von einer Schwäche spricht, wenn etwas einen stark beschäftigt! Alles, was Johann Trost sieht, das zählt er auch: Zaunlatten, Streifen, Balken, Markierungen auf dem Asphalt. Fenster natürlich. Wenn er Zug fährt, sind die Sitzreihen dran, die Lämpchen und Lüftungsschlitze.
Für meine Begriffe ist er zu sehr auf die geraden Zahlen fixiert. Sogar die Eins ist ihm unsympathisch. Aber er respektiert sie; das schon. Mit der Drei und der Fünf hat er Mitleid, weil er denkt, niemand möge sie. Da wechsle ich jeweils das Thema. Ich will ja keinen Streit.
Irgendwie gefällt mir dieser Johann Trost. Er findet, die Menschen sollten so miteinander umgehen, wie man eine Gitarre hält. Dieser Gedanke leuchtet mir ein. Trost meint vermutlich eine akustische Gitarre, nicht eine elektrische, die man würgt und schüttelt. Aber ich frage ihn nicht weiter, denn das Zuhören liebt er so wenig wie das Reden.