DO RE MI... Manfred Papst: Schmollen in der Wanne, NZZ 05.10.2024
Schmollen in der Wanne
Tine Melzer legt mit «Do Re Mi Fa So» einen skurrilen Roman über einen Opernsänger vor, der am Tag nach seinem vierzigsten Geburtstag einfach nicht mehr funktionieren will.
Welchen Vergleich man auch bemüht: Tine Melzer entzieht sich ihm. Man kann noch nicht einmal sagen, sie stehe quer zu den Moden der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Vielmehr kümmert sie sich gar nicht um sie. Das mag damit zusammenhängen, dass sie auf Umwegen zu ihr gekommen ist: über die bildende Kunst und die Sprachphilosophie, Gebiete, die sie interdisziplinär erforscht. Aufgewachsen ist die 1978 geborene Autorin, die sich als «glühende Europäerin» bezeichnet, in Bayern und Franken. Direkt nach der Schule zog es sie zum Studium nach Amsterdam. Im englischen Plymouth promovierte sie über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein, an der Gerrit Rietveld Academie Amsterdam unterrichtete sie sodann von 2004 bis 2009. Seit 2010 lebt sie mit ihrer Familie in Zürich, an der Hochschule der Künste Bern hat sie eine Professur inne.
Die literarische Bühne hat Tine Melzer mit zwei schmalen Romanen erobert. Beide sind Ich-Erzählungen von Sonderlingen, und in beiden steht schon der Titel formelhaft für das Tätigkeitsfeld des Protagonisten. «Alpha Bravo Charlie» (2023) zitiert den Beginn des Fliegeralphabets, das der Kurzstreckenpilot Johann Trost im Funkverkehr benutzte, «Do Re Mi Fa So» (2024) bezeichnet das «Sängeralphabet», mit dem Sebastian Saum seine Opernrollen gestaltet. Beide Romane überzeugen durch ihre sinnliche Kraft und die Fülle der skurrilen Einfälle, vor allem aber durch ihre pointierte, aphoristisch verdichtete Sprache. Hier ist keine Autorin am Werk, die bloss eine Geschichte von A nach B bringen will, sondern eine Sprachkünstlerin, die jedes Wort modelliert.
Während Johann Trost, der pensionierte «Busfahrer der Lüfte», ein Solitär war, ein Zahlen-Nerd, den man mit seinem Ordnungsfimmel, seiner Modellbaulandschaft auf dem Küchentisch und seinem sanften Widerstand gegen die Erlebnisgesellschaft einfach gernhaben musste, löst Sebastian Saum widersprüchliche Gefühle aus. Der verwöhnte Bühnenkünstler fasziniert uns durch seine Erinnerungs- und Assoziationsgabe, durch seine blitzenden Metaphern, aber er ist als Figur angelegt, die uns mit ihrem Hang zum Wehleidigen und Geschwätzigen gelegentlich auch nervt.
Eigentlich müsste Saum sich auf die Titelrolle einer neuen Produktion von Mozarts «Don Giovanni» vorbereiten. Doch am Tag nach seinem vierzigsten Geburtstag beschliesst er, nicht mehr mitzumachen. «Aus Trotz habe ich in der Badewanne übernachtet, und es war wie Ferien an einem unbekannten Ort»: Mit diesem Satz hebt sein Bericht an. Nach einem Vollbad hat der Bariton das Wasser abgelassen, die Wanne mit Decken und Kissen ausgekleidet und sich so bequem wie möglich eingerichtet. Aus der Eingebung eines Augenblicks wird eine Auszeit von sechzehn Tagen. Während dieser Zeit versorgt ihn sein Freund und Wohnpartner Franz mit allem Nötigen. Er tut das geduldig und ergeben – auch wenn der Umgangston im Lauf des Buchs allmählich knapper und gereizter wird.
Die Konstellation erinnert an Iwan Gontscharows lethargischen Helden Oblomow und dessen treuen Diener Sakar. Wenn Franz am ersten Morgen – tadellos gekleidet und dezent parfümiert – mit einem Tablett das Badezimmer betritt und das aus Milchkaffee, Grenadine-Sirup, Omelette, Birchermüesli und Brausetablette bestehende Frühstück serviert, um sich sogleich auf dem geschlossenen WC-Deckel niederzulassen und dem in der Wanne liegenden Saum aus der Zeitung vorzulesen, so ist das von elementarer Komik.
Saum fühlt sich wohl in seiner Nacktheit, doch seine Gedanken geraten in eine merkwürdige Gegenbewegung zu seiner Situation: Während er sein Leben zu sortieren versucht, erinnert er sich an all die Kleidungsstücke und Schuhe, die er seit seiner Kindheit jemals getragen hat. Wie sahen sie aus, wie fühlten sie sich auf der Haut an, wie wirkten sie auf andere, welche Geschichten verbargen sich in ihren Falten, bei welcher Gelegenheit bekamen sie Flecken und Risse? Die Differenziertheit, mit der Tine Melzer diese Wahrnehmungen in Sprache verwandelt, ist hinreissend. Da werden die klebrigen schwarzen Flecken, welche die Lakritze im Futter einer Hosentasche hinterlassen hat, buchstäblich zur Proustschen Madeleine. Hat nicht ein Vikar dem Knaben die Süssigkeit zugesteckt, und warum?
«Alpha Bravo Charlie» mit der exakten Uhrzeit des Geschehens am erzählten Tag überschrieben, so gilt diesmal jedem der sechzehn Tage ein Kapitel. Doch innerhalb dieser Ordnung wuchern die Assoziationen. Das Geschehen wird nicht bloss durchdekliniert. Saum fallen Bühnenauftritte ein, Begräbnisse von Freunden, an denen er gesungen hat, er lauscht dem Brummen der Heizung und dem Stampfen in der Wasserleitung, überlegt sich, was er neben dem Wasser in der Wanne sonst noch alles verdrängt hat, oder er regt sich darüber auf, dass manche Leute vor lauter Selbstzufriedenheit unentwegt vor sich hin pfeifen müssen. Das alles lesen wir mit Vergnügen, und es entschädigt uns dafür, dass die Autorin auch diesmal kleinteilig erzählt, ohne die Bogenarchitektur klassischer Romankunst.
Wird Saum seine Sinnkrise überwinden? Im letzten Kapitel wacht er auf wie nach einer kurzen, heftigen Krankheit. Franz ist verschwunden. Hat er gemerkt, dass er nicht mehr zur Verfügung stehen darf, wenn er Saum helfen will? – Der sieht aus dem Fenster, zieht den alten Blaumann und die Gummistiefel an und macht sich zu Fuss auf den Weg in Richtung Stadt.
Manfred Papst: Schmollen in der Wanne, NZZ 05.10.2024