Hansruedi Kugler: Fulminanter Roman, Tagblatt CH, 2023

Hansruedi Kugler: Fulminanter Roman– Tine Melzers Alpha Bravo Charlie, Tagblatt, CH Media, 2023

In Tine Melzers Roman trotzt einer dem Lebenschaos: «In Miniatur sieht die Welt erträglicher aus»

Bietet eine Modellbaulandschaft existenziellen Halt? Tine Melzers fulminanter Roman «Alpha Bravo Charlie» liefert eine scharfsinnige und witzig-schrullige Antwort. Und bietet mit einem pensionierten Piloten eine sehr schweizerische Figur gegen die Sinnlosigkeit des Lebens auf.

So etwas wünscht man sich öfters: Ein literarisches Debüt, das einen mit der Originalität des Sujets, phänomenalem Einfühlungsvermögen und klarem Formbewusstsein so überrascht, dass man der bisher unbekannten Autorin sogleich ein Mail schickt. Da schlüpft eine 1978 geborene Schriftstellerin in den Kopf eines pensionierten, geschiedenen Piloten, der eines Tages beschliesst, auf seinem Küchentisch ein Modell aufzubauen, wie man es von Modelleisenbahnen kennt. Sie habe selbst nie eine solche besessen, antwortet Tine Melzer. Und literarisch habe sie keine Vorbilder. Auch dem Literaturkritiker fällt kein Buch ein, das die Landschaft einer Modelleisenbahn zum Bildnis einer rührend-grotesken Weltaneignung macht. Das Sujet jedoch ist absolut plausibel.

Es droht uns allen: Der fehlende Lebenssinn

Vor allem geht es diesem Johann Trost ja um die Modelllandschaft, über die er im Selbstgespräch sagt: «In Miniatur sieht die Welt erträglicher aus.» Sein Berufsleben lang hat er aus der Distanz des Cockpits die Welt als Miniaturlandschaft gesehen und hat strikt nach zweckmässigen Vorschriften gelebt, nach den Protokollen und der Pilotensprache Alpha Bravo Charlie. Nun, geschieden und ohne Halt in der Arbeit, ist er ein neurotischer Ordnungsfanatiker, der sich langweilt und dem der Lebenssinn abhandengekommen ist. Ein Schicksal, das zwar in dieser Figur zugleich rührend und satirisch zugespitzt wird, uns allen aber droht, die wir uns in der Leistungsgesellschaft abrackern. Melzer begleitet Johann Trost einen einzigen Tag: Von 9.17 Uhr, er betritt ein Geschäft für Modelleisenbahnen, bis 21.50 Uhr, er stellt ein halb volles Glas Rotwein auf sein Modell. Dazwischen lässt sie Trost ausgiebig sein Leben räsonieren.

Frische Prussiens gegen die Traurigkeit

Tine Melzer trifft also eine verletzliche Stelle in unserer Gegenwart. Im Gespräch sagt sie, die Figur des Johann Trost sei «vor allem eine Projektionsfläche für eine Ohnmacht und die Suche nach der richtigen Rolle im gesellschaftlichen Trubel, die nicht nur pensionierte Männer heimsuchen kann». Ihr Roman liest sich denn auch trotz konzentrierter, bildstarker Sprache als schrullig-amüsantes psychologisches Kammerstück, scharf beobachtet und einfühlsam: So lockert die Traurigkeit ihren Griff um Johann Trost nur beim Anblick frischer Prussiens. Zum blossen Vergnügen Sport zu machen, ist ihm unbegreiflich, was man auch als sympathisch-hintersinnige Kritik an einer leeren Spassgesellschaft sehen kann.

Tine Melzer verführt uns ständig in diese Doppeldeutigkeiten: Wenn der Frühling kommt, fühlt sich Trost nicht mitgemeint. Und zwanghaft zählt er die Balken der Zebrastreifen oder die Lamellen der Heizkörper. Es sind solche neurotischen Marotten, die ihn den Alltag bestehen lassen. Aber man spürt gleichzeitig: Da steckt auch die existenzielle Komödie des sinnbefreiten Wartens auf Godot und das Drama der tapferen Hartnäckigkeit eines Sisyphos drin. Am Ende des Romans denkt man: Der arme Kerl wird am nächsten Tag wieder von vorne beginnen.

Schwiizer sii – nu luege

Dass hier eine Autorin sehr viel über Bild und Abbild von Welt nachgedacht hat, ist offensichtlich. Als Dozentin an der Hochschule für Künste in Bern verbindet Tine Melzer Sprachphilosophie und bildende Kunst. Ihre Laufbahn hat sie über Holland, England, Irland und Finnland sowie einer Promotion zu Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein in die Schweiz geführt. Ihre Forschungsarbeiten sind allesamt auf Englisch geschrieben, weshalb ihre Website auch keine deutsche Version bietet. Und vielleicht gelingt es ihr gerade dank der langen Jahre im Ausland, ein gültiges Bild einer Existenz zu zeichnen, die sehr schweizerisch und zugleich universal ist. Den Hinweis auf Eugen Gomringers legendäres Lautgedicht «Schwiizer» bringt sie jedenfalls zum Lachen. Darin wird ebendieser so beschrieben: «nu luege ... sicher sii ... nu vo wiitem ... schwiizer bliibe». Ja, so ungefähr sei das wohl, meint sie.

Ist der Beobachter sogar der bessere Menschenkenner?

Dass darin aber nicht nur die ängstliche Distanz der Lebensverweigerung steckt, sondern auch eine ernsthafte ästhetische Frage, wird einem in diesem hoch reflektierten Roman auch klar: Wie nahe muss man Menschen kommen, um sie zu sehen, um sie zu erkennen? Ist der Beobachter vielleicht sogar der bessere Menschenkenner? Die Hilfsbereitschaft dieses höflich-distanzierten Johann Trost jedenfalls ist herzerwärmend: Wenn ihn im Kleidergeschäft jemand für einen Verkäufer hält, klärt er das Missverständnis nicht auf, sondern hilft und berät, bis der Kunde, die Kundin das passende Kleidungsstück gefunden hat. Was sagt Tine Melzer doch über ihren kauzigen Romanhelden, der lieber die Welt auf die Modelllandschaft verkleinert, als sich ihr auszusetzen? «Dieser Johann Trost ist an sich ein hingebungsvoller Typ, der nur nicht weiss, an wen oder was er sich noch verschenken soll.» Ihr ist ein kleines Glanzstück gelungen.