DO RE MI...Pascal Moser: «Kunst kann Einsamkeit auflösen», Schweizer Buchjahr 24
«Kunst kann Einsamkeit auflösen»
Im Gespräch mit Pascal Moser spricht Tine Melzer über ihren neuen Roman «Do Re Mi Fa So», über den Zusammenhang von Freundschaft und Sprache und darüber, was passiert, wenn die Figuren verstummen.
In Ihrem aktuellen Buch geht es um einen Opernsänger, der während seines 40. Geburtstags beschliesst, sich gesellschaftlichen Ansprüchen zu verweigern. Er steigt in die Badewanne und bleibt einfach da. Wie schreibt man so ein Buch?
Wenn ich Bücher schreibe, dann schreibe ich immer sehr nahe am Wortmaterial. Ich schreibe einen Satz nach dem anderen und dann kommt die Komposition durch das Umstellen. In diesem Fall war das Kleiderkarussell der eigentliche Plot. Ich wollte eine Figur durch das Abtragen seiner Kleider erstellen. Er trifft also auf seine Kleider, die er im Verlauf seines Lebens getragen hat, und die bringen ihn zu den Stationen seiner Erinnerungen und er kann die Episoden seines Lebens wieder erleben. So entwickelt man erstmal eine Figur. Aber der Typ hat dann ein Bad genommen und ist nicht mehr rausgekommen. Und in so einer Situation unterwerfe ich mich der Figur, wenn möglich. und folge ihr. Ich will nicht die Kontrolle haben, worüber ich schreibe.
Diese experimentelle Art merkt man bei Do Re Mi Fa So auch ganz stark, irgendwann im Buch fällt auch das Wort Experiment.
Das Wort Experiment ist sehr wissenschaftlich vorbelastet und Wissenschaftler:innen wissen bei ihren Experimenten bereits, was rauskommen soll. Künstler:innen hingegen wollen das Unerwartete. Schreiben als Experiment ist mir also zu schwach. Es hat mehr etwas zu tun mit Risiko im Schreiben. Ich will mich nicht langweilen, ich will das Unbekannte, ich will wissen, was passieren könnte, nicht einfach was passieren muss. Die ganzen Dinge, die ich aufschreibe, werden zuerst zum Rohtext, ohne dass ich sie bewerte. In dem Moment, in dem ein Satz da ist, muss ich ihn als das akzeptieren, was er ist. Es ist weder mein Gedanke noch eine Idee, es ist einfach mein Material, aus dem ich Kunst machen kann. Und dafür nehme ich alles ganz wörtlich, wie es dasteht.
Ist dieser Mut zum Ungewohnten auch das, was Sie den Lesenden abverlangen?
Ich habe den Eindruck, dass dieses Buch immer auch eine Zumutung ist. Das Lesen kann unheimlich lustig sein, aber es ist auch dunkel, eine Form von Stillstand oder Depression. Der Sprachwitz ist da, aber man braucht auch Durchhaltevermögen, wie der Held selbst. In ‚Zumutung‘ steckt auch ‚Mut‘ und man muss sich dem stellen, dass an äußerer Handlung nicht viel passiert. Und dass man Erfahrungen begegnet, die man selbst kennt. Auch der Protagonist kennt die Verdrängung. Er sitzt in der Wanne, denkt an Archimedes und natürlich, und das geht nur im Deutschen, ist es auch das Psychologische, die Verdrängung. Diese Doppeldeutigkeit ist für mich das Schönste beim Schreiben. Und da braucht es die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, gerade wenn man so nahe am Wort ist.
Reden wir über die Handlung. Ist Sebastian Saum ein Gesellschaftsaussteiger oder ein Midlife-Krisenpatient?
Da gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen dem Protagonisten meines ersten Buches Alpha, Bravo, Charlie und dem aktuellen. Beide Protagonisten haben immer das Gefühl, sie müssen sich irgendwie engagieren und sie fragen sich, was sie denn der Allgemeinheit bringen. Das Verstummen ist ein gesellschaftliches Motiv, mit dem sich die Figuren in der Einsamkeit auseinandersetzen. Man öffnet aus Versehen diese Türe und kriegt sie nicht mehr zu. Es geht auch um einen Pakt, eine Erwartung, etwas daraus zu machen.
Der Protagonist Saum erinnert kaum zufällig an Kafkas Gregor Samsa. Was bedeutet Ihnen das Absurde für die Literatur? Es begegnet den Leser:innen Ihrer Bücher ja weitaus heiterer als bei Kafka.
Die Verwandlung habe ich zu einem wirklich viel zu frühen Zeitpunkt in meinem Leben gelesen. Es hat sehr viel von diesem Motiv des Rückzugs und auch von der Distanz zu den Mitmenschen und natürlich dem Wahnsinn. Hier steht auch ganz explizit die Frage im Raum, ob er sich dem hingeben soll, natürlich ist das auch eine Verwandlung. Da ist Kafka auch sehr prägend. Ich arbeite aber nicht so sehr mit Inspiration und Nachahmung, auch nicht mit erfundenen Szenen, sondern stärker an der eigenen Erfahrung.
Da haben Sie einen literarischen Seelenverwandten. Peter Handke sagt, man solle nur über sich selbst schreiben. Ist das Ihr literarisches Kunstkonzept, im Fliegenglas zu bleiben, im persönlichen Umranden des eigenen Horizonts?
Peter Handke ist für mich wie eine Impfung, ich lese Kaspar einmal, zweimal pro Jahr. Interessant ist Literatur für mich dann, wenn sie eine existentielle Bedeutung hat. Für mich ist wichtig, dass man immer bei sich bleibt. Das Psychologisierende und Autobiographische interessiert mich nicht unbedingt, aber die Empathie als Grund für Kunst, die Vermittlung und Mitteilung sehr. Eine grosse Funktion der Kunst ist der Trost, die Kunst kann Einsamkeit auflösen. Subjektivität kann der Zugang zum gegenseitigen Verstehen sein. Das ist kein Rezept, aber in diesen literarischen Werken möchte ich Dinge unbedingt so formulieren, dass sie universell sind, dass jemand anderes das verstehen kann.
Hier wird auch Sprache wichtig, als Medium zur Welterfahrung, das wird immer wieder reflektiert, genauso wie Kleidung eine Art Umwickelung ist. Sie geben den Dingen eine Form. Nacktheit und Stille sind die Gegenpole. Was passiert also, wenn die Wörter weg sind?
Ich stelle mir die Sprache wie einen Ring vor, wo die Grenze nach innen und nach aussen ist. Die Sprache ist ein totales Wunder, sie schafft es in dem Bereich, wo sie mich umgibt, dass ich mich vermitteln kann. Der äussere Ring ist typisch Wittgenstein, dahinter gibt es Dinge, die sich sprachlich nicht fassen lassen, die aber wichtig sind. Man kann aber immer ausdehnen, wo die Grenzen liegen. Und dann gibt es auch eine innere Sprachlosigkeit, und beide kann man verschieben. Ich bin einfach so trotzig, dass wir das, was es an Sprache gibt, immer ausbauen und Mut haben in der Sprache und in der Kommunikation und nicht nur in Sprichworten miteinander reden. So können wir uns erst verständigen, Dinge aus anderen Perspektiven verstehen. So haben wir eine Chance gegen den Hass und die Angst. Das sind die Feinde. Freundschaft und Sprache, das sind unsere Freunde.
Zurück zur Handlung. Der Protagonist ist noch immer nackt in der Badewanne, setzt sich mit Textilien und Texten auseinander. Im Versuch, «mit sich selbst auszukommen», scheint er sich jedoch zunehmend zu entfremden. Was holt uns da wieder raus?
Man kann sich viele Szenarien überlegen, was ihn da rausholt, und ich will eben nicht wie Gott sagen: «Das Haus brennt», sondern es muss von innen kommen. Dann ist mir irgendwann aufgefallen, dass es nur etwas gibt. Das ist für den Protagonisten sehr schade, denn es ist etwas ganz Profanes und er wäre ja eigentlich gerne ein Held geworden, der über sich selbst hinauswächst.
Stattdessen ist es nicht das Erhabene, sondern das Urmenschliche?
Das Animalische! Er ist eigentlich nur ein Tier. Wenn er das nicht hat, dann funktioniert das nicht. Wir sehen die Sache nicht, weil wir sie die ganze Zeit vor der Nase haben, es war die ganze Zeit da.
Er hat Hunger.
Es ist so banal. Dann kommt die psychologische Komponente des Freundes. Wie holt er ihn da eigentlich raus? Das ist für ihn unglaublich schwierig. Nur indem er ihn verlässt, kann er ihn retten. Er lässt also seinen besten Freund zurück und sagt: Du musst es machen, ich kann es dir nicht abnehmen. Die Frage, was uns rausholt aus so einer Situation hat erstmal gar nichts mit der Kunst zu tun, sondern mehr mit einer psychischen Krise. Wie holt man jemanden aus einer Depression raus?
Was hat es also mit dem Freund Franz auf sich?
Das Buch ist eine Ode an die Freundschaft, es gibt zu wenige Bücher über platonische Liebe und die freiwillige Liebe. Und die Frage, was ihn da rausholt, kann man auch mit Franz beantworten. Er sagt es ganz explizit. Es ist im Menschen angelegt, man muss nicht Künstler sein, man muss nicht malen oder dichten, man ist die ganze Zeit natürlicherweise daran, sich mitzuteilen und möchte verstanden werden, das ist die Grundlage. Wenn das fehlt, sind da Einsamkeit und Depression.
Das Buch handelt auch von einem Künstler. Würden Sie sagen die Kunst hat gesellschaftlich für die, die sich damit befassen, eine ähnliche Funktion wie platonische Freundschaft?
Ich denke, es hat viel mit Ethik zu tun und der Verantwortung, etwas mit sich anzufangen. Auch die Verantwortung, den Mut zu finden, ein Kunstwerk zu machen und es Leuten zu zeigen, das Risiko, nicht verstanden zu werden. Ich mag den Gedanken, dass die Beziehung zum Werk oder Text eine Art Freundschaft ist. Ich kann das gut nachvollziehen. Wenn ich wirklich lesen will und mich berühren lasse, dann ist mir die Geschichte egal, es muss in der Sprache passieren, dort ist der Moment der Berührung oder der Begegnung. Und umgekehrt: Jede Interaktion, die mit Interesse geführt wird, ist ein Wunder, wenn man darüber so nachdenkt. Es ist doch auch der Austausch von Innerem, der die Freundschaft reich macht. Ich finde, dass jedes Gespräch von Freunden auf seine Weise auch Kunst ist.