Bernd Noack: Ein Pilot landet hart auf dem Küchentisch, NZZ, 2023

Bernd Noack:  Ein Pilot landet hart auf dem Küchentisch, NZZ, 25.10.2023

Tine Melzer hat das anrührende Porträt eines Mannes geschrieben, der sich aus der Welt zurückzieht und die Wirklichkeit zu Hause als Miniatur nachbildet.

Früher blickte er als Pilot von oben auf die Erde und sah, im doppelten Sinn abgehoben, dass sie rund und gut war. Heute hockt er am Küchentisch und baut sich seine Welt im kleinsten Massstab selber zusammen; streut grüne Wiesen auf die Modellbauplatte, lässt es fein schneien, schiebt winzige Menschenfiguren von einer Gegend in die andere. Zufrieden ist er nicht: «Hätte ich einen Überblick über meine derzeitige Lage, wäre mir schwindlig von der flachen Weite.»

Er heisst Johann Trost, aber sein Nachname ist ihm nicht wirklich einer. Die in Zürich und Finnland lebende Autorin Tine Melzer hat sich diese tragische Figur erdacht, die in ihrem misanthropischen Weltschmerz so viel Komik behält, die den öden Regeln und Wiederholungen des Alltags Lebensmut entgegensetzen möchte und an der eigenen Trägheit, an der Absurdität der Normalität scheitert. Ein langer Monolog ist ihr Debütroman, dessen Titel «Alpha Bravo Charlie» keineswegs, auch wenn es so klingt, eine Ermunterung sein soll, vielmehr für das Buchstabieren (aus der Pilotensprache) des Immergleichen steht. Trost wagt zwar den Schritt in die Realität, doch: «Vom Fenster aus und in Miniatur sieht die Welt erträglicher aus.»

Vergeudete Tage

Das schmale Buch ist ein Kleinod. Melzer beherrscht die Kunst der tiefen Anteilnahme an einem Schicksal, das so banal ist, dass man aufschreien und Johann Trost am Schopf packen möchte, um ihn aus seiner Lethargie herauszureissen. Sein Unvermögen, mit anderen Menschen Kontrakte einzugehen, gepaart mit einer an der Seele nagenden Einsamkeit, machen aus dem Mann einen Helden der mitleiderregenden inneren Unsicherheit.

Melzers Sätze sind da schön und kratzig zugleich: Trost fragt sich, was aus seiner Vergangenheit werden soll. Oder er findet, an seinen Nachmittagen ist der Tag schon so vergeudet, «dass sich ein frischer Gedanke nicht mehr lohnt». Und er sieht ein, was Zeitverschwendung ist, «sobald es zu spät ist». Seine Tage wiederum sind ohne Dringlichkeit, und es tut ihm leid, steht da, «dass ich nicht genauer Bescheid weiss über den Profit, den man aus einem passabel, aber unbemerkt geführten Leben wie dem meinen schlagen könnte».

Tine Melzer scheint bei grossen literarischen Vorbildern gelernt zu haben. Man fühlt sich erinnert an Xavier de Maistres «Reise um mein Zimmer», an Georges Perecs Manie des Sammelns von alltäglichen Dingen und Verrichtungen – und doch hat sie ihren ganz unverwechselbaren Ton entwickelt, der nie ins Sentimentale abrutscht, bisweilen garstig klingt und immer selbstironisch grundiert ist. Trost kommt vom Arzt und hat erfahren, dass er noch nicht gleich sterben wird. Da sinniert er über seinen Nachnamen und verbucht die Nachricht als «Teilerfolg».

Kleines Glück

So lässt es sich noch eine kleine Weile weiterexistieren, ohne grosse Auf- und Abschwünge, nicht unbedingt durchstarten, wie damals mit dem Flugzeug, aber eben auch nicht abheben: «Meine zuverlässige Durchschnittlichkeit» nennt er das, worauf er sich jetzt verlassen kann und muss. Er treibt weiter durch die Strassen und Einkaufszentren, rettet sich in seine vier Wände, wo er Nachrichten aus dem Rest der Welt aus dem Radio des Nachbarn hört, das ihn mit Zufällen versorgt, von denen er gar nichts wissen will. Vielleicht ist er ja doch glücklich in seiner Unseligkeit? «An aufgeräumten Orten wie diesem», schreibt Tine Melzer, «könnte man glauben, die Ewigkeit hat schon begonnen.»

Am Ende steht eine noch ferne Begegnung, die vielleicht eine Veränderung in diesem unbestimmten Leben bedeuten wird. Trost nimmt sein Weinglas und stellt es ab im «frühlingsgrünen Tal» seiner Modellbaulandschaft.

Tine Melzer: Alpha Bravo Charlie. Roman. Verlag Jung & Jung, Salzburg 2023. 126 S