Babina Cathomen: Die Wortfetischistin, Kulturtipp, 2023
Babina Cathomen: Die Wortfetischistin, Kulturtipp, 2023
Tine Melzers Kunstform ist das Büchermachen. In ihrem Zürcher Atelier erzählt sie von ihrem literarischen Debüt und der Sprache als Spiel.
Wie aus einem Cockpit blickt Tine Melzer von ihrem Atelier aus auf den graublauen Zürichsee, die vertäuten Boote und die kleinen, umtriebigen Menschen. Von hier aus kann sie mit Abstand die Welt betrachten, ganz wie ihr Protagonist im Roman «Alpha Bravo Charlie»: Dieser Johann Trost, ein Ex-Pilot, sucht nach seiner Pensionierung einen neuen Platz im Leben. Als Leserin begleitet man ihn einen Tag lang durch den Alltag, wird Zeugin von seiner Verlorenheit, seinen Marotten und den Beobachtungen als Aussenstehender auf die Gesellschaft. Nur das Basteln an einer Modellbaulandschaft vermittelt ihm wie früher im Cockpit das Gefühl von Ordnung und Überblick.
“Es geht auch um die Frage nach dem Ort, an dem man sich zugehörig fühlt», sagt die Autorin. «Trost staunt über die Selbstverständlichkeit, mit der die anderen ihr Recht auf Heimat einfordern.» Diese Frage beschäftigt auch die Künstlerin, die einst «aus Bayern ausgewandert und nie mehr zurückgekehrt» ist. In Amsterdam hat sie Kunst und Philosophie studiert und in England über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein promoviert. Heute unterrichtet sie an der Hochschule der Künste in Bern. Ihre Kunst entsteht sowohl im Zürcher Atelier als auch in ihrer Waldhütte mit Holzofen in. Finnland, wo sie sich. in die Konzentration zurückziehen kann, wie sie erzählt.
Der Papagei gilt als Sprachtier
Das Spiel mit der Sprache und ihren verschiedenen Bedeutungen ist zu ihrem Kunstmittel geworden, das Büchermachen zur Kunstform. So hat sie etwa eine computergenerierte 26-bändige Enzyklopädie mit allen aussprechbaren Wörtern bis sechs Buchstaben gestaltet. In ihren Büchern verbindet sie Sprachphilosophie, bildende Kunst und Literatur. «Das Buch ist für mich die zuverlässigste Form, die Sprache immer wieder aufs Neue zu befragen», sagt sie. Etwa mit ihrem Text-Bild-Band «Taxidermy for Language-Animals», auf dessen Cover ein ausgestopfter Papagei prangt. Der Vogel sitzt auch auf ihrem Buchregal und ist zum Maskottchen geworden. Nicht ohne Grund, gilt doch der Papagei als Sprachtier, obwohl er nur die Klänge imitiert, ohne die Bedeutung zu verstehen. «Das eigentliche Sprachtier ist der Mensch, der manchmal auch nur etwas nachplappert oder die Mehrdeutigkeit der Sprache nicht wahrnimmt.»Solche Überlegungen fliessen auch in ihren Roman ein: «Meine Figur nimmt die Sprache zuweilen zu wörtlich», sagt sie und gibt ein Beispiel: «Im Satz ‹Auf dem flachen Land kann man nichts verbergen› verbirgt sich der ‹Berg›. So verschiebt sich ganz kurz die erste Bedeutung.» Solche Feinheiten, die beim Lesen als kleine Kippmomente im Sprachgefüge auffallen, durchziehen ihren Roman und zeigen die Künstlerin als «Wortfetischistin», wie sie sich auch selbst bezeichnet.
Tine Melzers Kulturtipps
Film
Sarah Polley: Die Aussprache «Niemand muss Mennonitin sein, um zu merken, dass dieser Film mit allen Frauen zu tun hat – der unterdrückten Hälfte der Weltbevölkerung. Unbedingt in guter Begleitung sehen, er ist nicht lustig, aber macht Resthoffnung.»
Performance
Dr.-Lüdi-Show: Lüdi ruft die Geister«Absurd, überraschend, Aspektsehen. Bei Auftritten von Andres Lutz alias Dr. Lüdi kann man das Risiko eingehen, etwas Altbekanntes ganz neu zu sehen.»www.luedishow.ch
Magazin
Reportagen «Diese grausam guten Geschichten im Magazin ‹Reportagen› ersetzen nächtliche Zeitverschwendung im Internet: echtes Leben ausserhalb des Paradieses, eine gute Zumutung für alle, die nicht nur Headlines lesen.»